GHORDO | NIKES HAND REINHARD MINKEWITZ
Mit der Doppelausstellung „Ghordo” im HVB KUNST RAUM LEIPZIG und „Nikes Hand” in der Galerie Koenitz, die am 11. Oktober um 19 Uhr in der Galerie Koenitz eröffnet wird, rekurriert der Leipziger Maler und Grafiker Reinhard Minkewitz in vielfacher Weise auf antike Inspirationsquellen, deren ungebrochene Aktualität er mittels eigener Interpretationen im skulpturalen wie auch malerischen & zeichnerischen Format sowie in der Druckgrafik unter Beweis stellt.
Im Zentrum der Ausstellung „Ghordo“ im HVB KUNST RAUM steht die gerade entstandene Bronze „Dornenläufer“, die der Künstler wie folgt selbst beschreibt:
„Der „Dornenläufer“ drückt für mich auf einen Blick die fundamentalen Paradoxien des Menschsein aus. Er bewegt sich zwischen dem Individuellen und dem Universalen, dem Unscheinbaren und dem Weltumspannenden. Als Künstler versuche ich aus der Endlosigkeit der unmittelbar gegebenen Welt ein Stück herauszugrenzen, es als eine Einheit zu fassen und zu formen. Der „Dornenläufer" fasst diese Worte in einer Figur zusammen."
Die Endlosigkeit aus der der „Dornenläufer“ und die ihn flankierenden feingliedrigen Äste in Bronze herausgelöst scheinen, manifestiert sich in der großformatigen, titelgebenden Kohlezeichnung „Ghordo“, welche Hans-Werner Schmidt 2017 als „ein in Wirrungen verstricktes Liniengeflecht“, das „in den Zustand der Formwerdung“ versetzt ist, bezeichnet. Hier scheint „eine Figur […] im Zustand der Entwirrung nach vorn zu treten, Physiognomien und weitere anatomische Details finden Kontur im Verlauf der nervösen Linienzirkulation.“
Die Linie ist für Minkewitz stets die Basis allen Schaffens, aus der er seine Figuren heraus entwickelt und deren Gestiken, die wiederum ihren Wirkungsraum definieren, sei es in der Zeichnung, in der Graphik oder der Stuckgravur, einer raren Technik, die Minkewitz in Perfektion beherrscht.
In Anbetracht des Umfanges der vom Künstler angewandten Techniken, mag man ihn gar als Vertreter der Idee des Gesamtkunstwerkes betrachten. So werden in der Ausstellung „Nikes Hand“ in der Galerie Koenitz neben einer Auswahl an Malereien, Tusch- und Kohlezeichnungen, Bronzen und graphischen Blättern ebenfalls Marmorreliefs gezeigt.
Der für die Ausstellung gewählte Titel hingegen bezieht sich auf den 2019 entstandenen graphischen Zyklus von 8 Steinritzungen, dessen Inspirationsquelle im Pariser Louvre zu verorten ist.
Über die faszinierenden Hintergründe wird Dr. Richard Hüttl zur Eröffnung am 11. Oktober um 19 Uhr in der Galerie Koenitz sprechen.
Wir freuen uns auf Ihren Besuch!
Laudatio zur Eröffnung der Austellung in der Galerie Koenitz am 11. Oktober 2024
Dr. Richard Hüttel
Die Titel der Werke von Reinhard Minkewitz sind oft so rätselhaft wie die Darstellungen, und diese doppelte Fremdheit stiftet Neugierde, die ja bekanntlich am Anfang jeder Erkenntnis steht. „Ghordo“ nennt er eine großformatige Arbeit aus dem Jahre 2002 - Kohle auf Leinwand -, die Sie hier in dieser Ausstellung sehen können. Das indogermanische Wort bedeutet Garten oder Flechtwerk. Der Garten in dieser Bedeutung ist also abgegrenzt durch einen Zaun, eine Umwallung. Minkewitz zeigt uns ein Liniengeflecht, aus dem sich eine menschliche Figur herauszuwinden scheint. Ist die Figur „im Zustand der Formwerdung“ oder im „Zustand der Entwirrung“, hat sich Hans-Werner Schmidt gefragt. Vielleicht ist die Figur auch in ein wahres Labyrinth verstrickt, in einem Zustand neuer Erfahrungen, die wir uns nur vorstellen können, wenn wir den Sinn dieses Ghordo enträtselt haben. Was ist das für ein Garten, warum trägt er einen indogermanischen Namen?
Das indogermanische Wort soll uns in weite Fernen zurückführen, in eine geschichtliche Vorzeit. Es hat - wie öfter bei Reinhard Minkewitz - einen mythischen Grund, den man am besten mit einem Satz des großen Mircea Eliade erklärt: „Die Mythen kennen heißt, das Geheimnis vom Ursprung der Dinge kennenlernen.“ Was für ein Geheimnis vom Ursprung aber könnte das sein? Ghordo ist ein Ursprungsmythos: Die Entdeckung des Gartens entspricht der Entdeckung des Ackerbaues, in der Menschheitsentwicklung ist es der Übergang vom Jäger zum Pflanzer. Das Liniengeflecht ist also wohl nichts anderes als die Umzäunung, die das geistige Universum des Menschen radikal verändert hat. Innerhalb des Zauns wird Getreide angebaut. Die Welt des Menschen wird nun in Begriffen des vegetativen Lebens erfaßt, in Zyklen, in Wiederholungen, im immergleichen Rhythmus von Säen, Wachsen und Ernten; im Rhythmus von Geburt, Tod und Wiedergeburt. Reinhard Minkewitz betreibt eine Rückkehr in den Ur-Mythos, in Ur-Symbole, Ur-Assoziationen. Mit einer sehr einprägsamen Formel von Yuval Harari könnte man sagen, nicht wir haben das Getreide domestiziert, das Getreide hat uns domestiziert. Mit dem umzäunten Ghordo entsteht die Religion, das „Geheimnis des pflanzlichen Lebens“, so Eliade. Das Sein bestimmt das Bewußtsein, so haben wir es einmal gelernt. Mit den Anfängen des Ackerbaus und der Zähmung von Tieren verändert sich radikal das Leben und Denken der Menschen. Was hat es in dieser Ghordo-Kultur nicht alles an Aufbrüchen gegeben: Die religiösen Ideen, die Mythen, die rituellen Schauspiele; all das entsteht mit dem „Vegetations-kreislauf“, der uns die Tatsache der „periodischen Erneuerung der Welt“ lehrt (Eliade). Eine solche Erkenntnis setzt aber einiges voraus: Bei Reinhard Minkewitz ein tiefes Eintauchen in die Geschichte.
Eine Arbeit von ihm - Kohle und Öl auf Leinwand von 2017 - heißt „Der Raum gedehnt“, was auch Titel seiner Ausstellung in Schloss Hartenfels in Torgau war. Mit weit ausgestreckten Armen scheint sich eine Figur mit tänzelndem Schritt in Bewegung zu setzen, und es ist angesichts dieser Figur keine gedankenflüchtige Willkür, Leonardos Zeichnung „Der Mensch des Vitruv“ zu assoziieren. Leonardo hat diesen Vitruv-Mann ja charakterisiert als ein Beispiel für einen Menschen, dessen Leben von „wunderbarer Wirkung“ sei, der „alle geschaffenen Dinge bezwingt“ und ständig „Lage und Form“ ändert. „Der Raum gedehnt“ zeigt also eine Figur, die von „der inwendigen Macht“, so Leonardo, in Bewegung gesetzt und geistig dynamisiert wird.
Die Räume zu dehnen, das könnte man als ein besonderes Anliegen von Reinhard Minkewitz ansehen: Schon seine Themen zeigen, dass er die Räume dehnt, dass er die Begrenzungen überwindet, dass er von der „inwendigen Macht“ angetrieben wird und trotz Widerstände den bewegten Körper mit Energie anschiebt. Er durchquert historische Räume, die andere ignorieren - wie Ghordo. Weit ausgreifend wendet er sich dem ersten ersten literarisch überliefernten Mythos, dem babylonischen Gilgamesch-Epos zu. Er geht auch schon einmal viertausend Jahre zurück . Ich hatte eben daran erinnert, dass innerhalb des Ghordo, der eingezäunten Welt der Ackerbauern, die Vielschichtigkeit und der Reichtum der Religionen und Mythen beginnt, der Kreislauf von Leben und Tod und das Leben nach dem Tod Gestalt annimmt; eine „neolithische Spiritualität“ entsteht (Eliade), die uns am großartigsten im Gilgamesch-Epos begegnet. Wer 2006 Ihre wunderbaren Bilder dazu im Kroch-Haus in Leipzig gesehen hat, lieber Herr Minkewitz, der wird bestätigen, dass wir einen faszinierenden Leipziger Mythographen erlebten. Sie haben eine Erinnerung an ein dichterisches Werk gezeigt, das ziemlich einzigartig in der zeitgenössischen Kunst ist. Das Geheimnis von Leben, Tod und Wiedergeburt wird hier mythisiert. Ischtar steigt in die Unterwelt hinab. Sie möchte auch darüber herrschen. Als Göttin der Liebe und des Krieges will sie über Leben und Tod herrschen, aber sie scheitert mit ihrem Eroberungswunsch der Unterwelt. Sie kann den Tod nicht bezwingen. Mit dem Mythos beginnen psychologische, menschliche Rechtfertigungen und Erklärungen von Leben und Tod.
Ich hatte das Glück, dass ich Sie etwas später kennenlernen durfte und die Gelegenheit bekam, mich intensiver mit dem Zyklus „Hymettosblau“ zu beschäftigen. Reinhard Minkewitz verlegte 2009 in seiner graphischen Folge von zwölf Radierungen den Schauplatz auf den Bergrücken Hymettos auf der griechischen Halbinsel Attika östlich von Athen; dort, wo der graublaue Marmor gebrochen wurde und wird. Reinhard Minkewitz widmete den Zyklus dem russisch-amerikanischen Lyriker Joseph Brodsky, dessen Gedicht „Odysseus an Telemachos“ der Mappe beigegeben war. Es ging in „Hymettosblau“ nicht darum, dass man eine graphische Folge an einen Text wie an ein „Schlepptau“ hänge, wie das Gottfried Keller einmal ironisch genannt hat. Das Verhältnis zwischen Text und Bild ist bei den Leipzigern im Allgemeinen und bei Reinhard Minkewitz im Besonderen durchaus nicht „illustrativ“ im Sinne eines der Literatur dienenden bildenden Künstlers. Vielmehr begegnen sich da zwei Gattungen auf eine ganz produktive Weise. Reinhard Minkewitz selbst spricht von „geistigen Beziehungen“ beider. Das graphische Blatt ist eine Art psychischer Hallraum der Dichtung, aus dem man viel mehr heraushören, oder besser heraussehen kann, wenn man in diesem Raum einmal gewesen ist. Wie immer bei produktiven geistigen Beziehungen profitieren beide. Der literarische Text wird reicher wie auch das graphische Blatt, das in seiner Wirkung gesteigert wird.
Als ich die Radierung „Lichtschaum“ aus dem Zyklus „Hymettosblau“ zum ersten Mal sah, wurde mir das zentrale Motiv des Fremdseins, ja des Verlorenseins des russischen Odysseus Joseph Brodsky, dem die Mappe gewidmet ist, viel deutlicher. Der russisch-amerikanische Dichter beschrieb ausführlich seine „Empfänglichkeit für das Wasser“, das für ihn ein „Bild der Zeit“ ist. Reinhard Minkewitz hat das Blatt mit besonderer Sorgfalt behandelt. Die Wirkung verdankt sich insgesamt zwölf Ätzgängen. Es ist ein kongeniales Verhältnis zur Wasser-Metaphorik Brodskys. Es ist die Besonderheit Leipziger Kunst und hier vor allem von Reinhard Minkewitz, dass sich die „geistigen Beziehungen“ zwischen Literatur und Graphik i einem so unendlichen Reichtum zeigen. Reinhard Minkewitz konfrontiert uns it den longues durées unserer Kultur. Es ist eine Wiederentdeckung von Überliefertem aber Verschollenem. Er hilft uns mit seinen Bildern auf der Suche nach den Spuren unserer Kultur, vor allem der Spuren, die wir Mythos nennen.
„Vielleicht ist der Mythos eine Erzählung, die sich nur verstehen läßt, indem sie wiedererzählt wird“, so Roberto Calasso. Die Mythen sind „Zweige einer Familie“, die einen inneren Zusammenhang bilden, mit wiederkehrenden Figuren und Konfigurationen. Was ist der Grund dieser Anstrengungen des Erinnerns? Ist das vielleicht etwas, was Goethe einmal so treffend gesagt hat, nämlich sein Grauen, „im Zeitstrudel fortgerissen“ zu werden und der „Furie des Verschwindens“ anheimzufallen? Kultur, so sagt er, sei nichts anderes als eine unausgesetzte Folge bewahrender Anstrengungen, die „man nicht wieder fahren lassen (und) um keinen Preis aufgeben“ dürfe.
Ich würde gerne am Schluss noch ein Werk erwähnen, an dem man sehr schön das Motiv des Verlorenen erzählen kann; ein typisches Beispiel der mythischen Erzählkunst von Reinhard Minkewitz. Es ist „Nikes Hand“, eine Liniengravur und Öl auf Holztafel von 2017. Der Künstler beschäftigt sich mit einem Fragment, mit einem im Schutt der Vergangenheit aufgefundenen Überbleibsel, das Assoziationen zu einer berühmten antiken Skulptur bietet; der Nike von Samothrake. Auch hier muss man wissen, dass der antike Schutt Reinhard Minkewitz schon länger beschäftigt, wie vor allem seine zwölf Radierungen „Perser-Schutt“ von 2011 zeigen. Die kopflose Nike von Samothrake gehört zu den berühmtesten Antiken des Louvre. Vor allem im 19. Jahrhundert wurde die Nike oft nachgeahmt, etwa bei der Quadriga auf dem Wellington Bogen am Hyde Park in London oder der Viktoria auf der Berliner Siegessäule. Die Darstellung der Siegesgöttin Nike, die mit einem Seesieg der Flotte von Rhodos um 190 v. Chr. in Verbindung gebracht wurde, war gerade in kriegerischen Zeiten des 19. Jahrhunderts beliebt. Die Nike wurde 1863 auf der nordägäischen Insel Samothrake in einem Scherbenhaufen von einem französischen Vizekonsul gefunden. Die Marmorstatue aus hellenistischer Zeit schleppten die Franzosen nach Paris in den Louvre ab. Später kamen französische Archäologen zurück, um den Kopf der Statue zu suchen; vergeblich. 1950 jedoch fanden New Yorker Archäologen den rechten Handteller der Nike. Im Wiener archäologischen Museum wiederum entdeckte man im Magazin den zugehörigen Daumen und einen Teil des Ringfingers; Fragmente, die österreichische Archäologen schon 1873 im Schutt von Samothrake gefunden hatten. Da der Handteller in Griechenland verbleiben musste, behalf sich der Louvre mit einem Gipsabguß. Die Wiener dagegen halfen dem Louvre mit Daumen und Ringfinger. Das Pasticcio aus gipsernem Handteller und originalem Daumen und Ringinger befindet sich heute in einer Vitrine des Louvre unweit der Nike von Samothrake.
Ich glaube nicht, dass Reinhard Minkewitz mit seiner Arbeit von 2017 diesem archäologischen Verwirrspiel Referenz erweisen wollte. Ich glaube eher, dass er - wie schon bei „Perserschutt“ oder der „Geborstenen Säule“ von 2013, die Sie hier sehen können, eine andere Intention verfolgt. Bei einem so geschichtsinteressierten, so besessenen Künstler wird man wohl eher an ein kulturelles Modell denken müssen, das ich schon zu Beginn erwähnt habe: an den Kreislauf von Leben und Tod, an Größe und Verfall, an das Vergessensein und das Wiederentdecken; kein biologisches, sondern ein symbolisches Modell. Von Aristoteles gibt es den Satz, wonach man die Wahrheit über etwas erst zu sagen vermag, wenn es tot ist. Reinhard Minkewitz macht mit uns Reisen oft weit zurück zu den Toten, oder besser in die Geschichte. Er zeigt uns, dass sie ein „wundersamer Prozeß der Verpuppungen“ ist, so Jacob Burckhardt. Er nimmt uns mit auf eine Reise voller Überraschungen, voller Fragmente, die aber ein „unermeßliches Ganzes“ darstellt (Jacob Burckhardt), das wir staunend wahrnehmen und bei deren Ende uns Jacob Burckhardts Fazit einleuchtet: „Denn er Geist hat Wandelbarkeit aber nicht Vergänglichkeit.“
GERT PÖTZSCHIG
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